Türkische Studentinnen über das verheerende Erdbeben im Februar: «The whole country is mourning»

Türkische Studentinnen über das verheerende Erdbeben im Februar: «The whole country is mourning»
Räumungsaktion in Hatay.  Foto: Caglar Oskay

Bereits zwei Monate ist es her: das verheerende Erdbeben entlang der türkisch-syrischen Grenze mit mehr als 50'000 Todesopfern. Und noch immer ist ein Grossteil der Bevölkerung nicht in Sicherheit, noch immer leidet das ganze Land. Denn auch wenn flächenmässig nur ein kleiner Teil des Landes betroffen ist, fühlt die ganze Bevölkerung mit. So auch zwei türkische Politologie-Studentinnen aus Istanbul und Ankara, die derzeit ein Austauschsemester in Göteborg verbringen. Sie erzählten mir, wie sie die Katastrophe aus der Ferne erlebten, wie ihre Familien und Freund*innen betroffen seien und wie Erdogan bei der Krisenbekämpfung versagt habe. Ihre Namen wollen sie dabei aus Sicherheitsgründen nicht nennen.

Everyone [in Turkey] feels the pain of the others, because they know it [an earthquake] could happen to them too.

So weit von ihren Familien und Freund*innen entfernt zu sein, gestaltete sich für sie emotional sehr belastend. Sie mussten ihr «normales» Leben, so gut es ging, weiterführen, während in ihrer Heimat zehntausende Menschen starben. Sie fühlten sich einsam, schuldig und nutzlos. Während ihre Familien und Freund*innen an grossen Kampagnen teilnahmen, konnten sie nichts tun, ausser herumzusitzen und Geld zu spenden. Sie und ihre Familien leben glücklicherweise weit weg von den kritischen Gebieten, aber viele ihrer Freund*innen sind direkt betroffen und erleben schreckliche Schicksale. Zum Beispiel erzählten sie mir von einer guten Freundin, die neun Familienmitglieder verlor, als ihr Haus einstürzte.

Lila: Wohnorte der Studentinnen und ihrer Familien. Blau: vom Erdbeben betroffene Gebiete. Rot: ehemaliger Wohnort der Freundin, deren Haus einstürzte und die dabei neun Verwandte verlor. Wichtig: Da dieser Artikel auf die Türkei fokussiert und grösstenteils auf Aussagen der beiden Studentinnen basiert, sind auf dieser Karte nur die betroffenen Gebiete in der Türkei eingezeichnet, nicht diejenigen in Syrien.

Die Überlebenden flohen in benachbarte Provinzen und viele von ihnen (darunter auch Bekannte der beiden Studentinnen) schlafen dort bis heute in Zelten, die den eisigen Temperaturen nicht standhalten können. Doch die Kälte ist nicht die einzige Gefahr. Die Menschen haben nicht genug Wasser, die Hygiene ist unzureichend, Fake News über angebliche Plünderungen – oft mit syrischen Flüchtlingen als Täter – sorgen für Unruhe und Angst. Währenddessen sind viele noch immer auf der Suche nach den Leichen ihrer Angehörigen und nach einem Ort, um sie zu begraben.

We felt like other countries cared about us. What makes us sad is that Syria did not get this help. They got forgotten.


Für die internationale Unterstützung sind sie sehr dankbar, durch die Solidarität und die vielen Spenden hätten sie sich nicht allein gefühlt. Sie wünschen sich jedoch, dass Syrien die gleiche Hilfe erhalten hätte.

In Zeltlagern wie diesem befinden sich Überlebende seit zwei Monaten. Source: ensonhaber https://www.ensonhaber.com/gundem/adiyamanda-115-bin-kisinin-barinacagi-cadir-kent-kuruldu

Wie kannst du helfen?

Die Millionen Menschen, die derzeit unter menschenunwürdigen Bedingungen in Zeltlagern leben, sind weiterhin auf Hilfe angewiesen. Die meisten Spendenorganisationen seien relativ sicher, aber für die Türkei empfehlen die Studentinnen persönlich «Ahbap». Zu syrischen Organisationen können sie leider keine Auskunft geben.

Vorbereitet durch Vorgeschichte?


Da die Türkei, und insbesondere dieses Gebiet, immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird, könnte man eine gewisse Vorbereitung erwarten. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Zwar zahlt die Bevölkerung seit Jahren eine zusätzliche Steuer, um das Land für solche Fälle zu wappnen – aber wohin ist das Geld geflossen? Nach Auskunft der beiden türkischen Freundinnen wurden damit z.B.  Strassen gebaut. Die Politik schien sich also überhaupt nicht um eine zweckmässige Verwendung gekümmert zu haben.  Dafür spricht auch die Legalisierung von Gebäuden in Hatay (einer der am stärksten betroffenen Regionen), die eindeutig nicht den Vorschriften für Erdbebensicherheit entsprachen. Trotz des hohen Risikos wäre eine Renovierung nicht erforderlich, so die Regierung im Februar 2022… genau ein Jahr vor dem Erdbeben. Dass diese Häuser mitunter die grössten Schäden davontrugen, ist nicht verwunderlich.

Doch selbst wenn die Gebäude ursprünglich vorschriftsmässig gebaut wurden, sind sie heute nicht unbedingt erdbebensicher – denn die Regierung führt keinerlei Kontrollen durch. So können Häuser nach Belieben umgebaut werden, selbst wenn dabei tragende Pfeiler herausgerissen werden. Genau das war bei der erwähnten Freundin der Fall, die neun Verwandte verloren hat: Für einen neuen Supermarkt wurde das ganze Fundament erneuert, wodurch das Haus an wichtiger Stabilität verlor – und während des Erdbebens einstürzte. Man kann sich vorstellen, wie viele Menschenleben gerettet werden können hätten, würden diese Vorschriften ernst genommen und regelmäßig kontrolliert!

Eingestürztes Haus in Hatay. Foto: Caglar Oskay 


Polarisierung statt Solidarität


Auch beim Krisenmanagement machte Erdogan keine gute Figur. Obwohl sie nicht viel erwartet hatten, waren die beiden Studentinnen schockiert. Die Hilfe kam viel zu spät und auch dann nur unzureichend. Viel Zeit wurde mit Diskussionen und Verhandlungen mit NGOs vergeudet, das Internet war voll von Propaganda. Foren, in denen über die Verantwortung der Regierung gesprochen wurde, wurden gesperrt und in Interviews wurde die Lautstärke gedrosselt, sobald es darum ging. Stattdessen wurden Videos gedreht, wie regierungsnahe Organisationen Kinder aus den Trümmern retteten. Nach Ansicht der beiden jungen Frauen sind diese Videos jedoch grösstenteils gestellt und dienen lediglich als «Trophäen» und zur medialen Selbstinszenierung. Dass sie dabei internationale NGOs bei ihren lebensrettenden Aktionen behindern, interessiert sie nicht.


Erdogans Ziel ist für die beiden angehenden Politikwissenschaftlerinnen klar: die Gesellschaft weiter zu polarisieren, zu spalten und sich die Stimmen in den nicht vom Erdbeben betroffenen Gebieten für die anstehenden Wahlen im Mai zu sichern. So sei seine Hilfe von Beginn an auf die Bedürfnisse der Bevölkerung dieser (nicht betroffenen) Provinzen fokussiert und nicht auf diejenigen, die sie wirklich bräuchten. So ganz scheint der Plan aber nicht funktioniert zu haben…


Die Bevölkerung ist wütend – verliert Erdogan wichtige Stimmen?


Nach dem Erdbeben bildeten sich neue Koalitionen und mehr Parteien stellten sich gegen Erdogan. Die Oppositionsparteien zeigten sich hilfsbereiter und rückten sich damit in ein besseres Licht, während das Krisenmanagement der Regierungspartei stark kritisiert wurde. In der Bevölkerung wächst die Wut – und das macht Hoffnung: Die türkischen Studentinnen sind überzeugt, dass der Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei eine reelle Chance hat, die Wahl zu gewinnen. Das zeigt sich auch in den Wahlumfragen: Anfang März liegt Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen Partei CHP laut Umfragen mit 57,1 Prozent vor dem Amtsinhaber… Nach zwanzig Jahren Erdogan könnte es zum ersten Mal wieder einen Regierungswechsel geben. Gespannt, hoffnungsvoll, aber auch ein wenig nervös warten die beiden jungen Frauen nun auf den ersten Wahlgang am 14. Mai.