Das Progressive Schweden – und was die Schweiz davon lernen kann, Teil 2
Hej Schweiz! Schon mal was vom schwedischen Begriff «lagom» gehört?
«Lagom» ist viel mehr als nur ein Begriff – es ist wohl das wichtigste Konzept in Schweden und bedeutet so viel wie «gerade genug, nicht zu viel und nicht zu wenig». Das Ziel ist Ausgewogenheit in allen Lebensbereichen, sei es Arbeit, Ernährung, Freundschaften oder einfach nur die innere Balance. Das Prinzip ist zwar individuell ausgerichtet, jede*r soll für sich selbst die goldene Mitte finden, gleichzeitig ist aber auch Achtsamkeit gegenüber Anderen und gutes Zuhören ein wichtiger Bestandteil. Dass die Schwed*innen dieses Prinzip sehr ernst nehmen, sieht man auch auf der Strasse: Im Gegensatz zu Zürich gibt es da keine gestressten Menschenmassen, die von einem Ort zum anderen hetzen. Alle sind ruhig, lassen sich Zeit und sind sehr aufmerksam. Das ist mir zum ersten Mal bei meiner Ankunft in Schweden aufgefallen, als ich mit meinem grossen Gepäck auf dem Weg von der Tramstation zu meiner Wohnung war. Auf dem zehnminütigen Fussweg haben mir etwa fünf Leute ihre Hilfe angeboten. Davon kann ich in Zürich nur träumen, da werde ich wahrscheinlich eher angerempelt und die Passanten ärgern sich, dass ich nicht schnell genug bin.
Auch im Café (kafé) merkt man diese Gelassenheit. Ab etwa drei Uhr ist da «Fika» – die schwedische Kaffeepause – angesagt, eine weitere wichtige Tradition und Bestandteil von lagom. Zusammen mit Freund*innen wird ein heisses Getränk (varm dryck) und eine Süssigkeit (godis), zum Beispiel die sehr leckere «Kannelbullar» (Zimtrolle), konsumiert. Dazu wird gequatscht und der Alltag für eine kurze Zeit vergessen. In den sehr gut besuchten kafés fallen zwei grosse Unterschiede zur Schweiz auf: Erstens gibt es in der Regel keine Bedienung, man holt sich seinen Kaffee an der Theke und bezahlt da auch gleich. Als ehemalige Serviceangestellte kann ich mir die Stressreduktion da sehr gut vorstellen. Der zweite Unterschied hat mich aber noch mehr fasziniert: Egal wie lang die Schlange ist, das Personal lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie arbeiten in ihrem Tempo, lassen sich von nichts stören und wenn sie etwas aufräumen müssen, lassen sie die Gäste warten. Mühsam für die Kund*innen? Sieht nicht so aus! Denn diese warten geduldig und zufrieden, ohne ein böses Wort zu verlieren, bis sie an der Reihe sind. Ich erinnere mich noch gut an meine Zeit im Schweizer Café, wenn die Gäste dort nicht innerhalb von fünf Minuten bedient wurden, musste ich mir schon einiges anhören. Wie entspannt muss es sein, in einer solchen Atmosphäre zu arbeiten!
Aber woran liegt das? Warum sind die Schweizer*innen so viel gestresster als die Schwed*innen? Liegt das Problem wirklich im System oder eher in individuellen Charaktereigenschaften? Die Antwort ist wahrscheinlich irgendwo dazwischen zu finden. Wenn wir uns die Work-Life-Balance im OECD Better Life Index anschauen, schneidet die Schweiz nämlich nicht viel schlechter ab als Schweden. Beim Anteil der Arbeiter*innen, die aussergewöhnlich viele Stunden arbeiten, steht die Schweiz mit 0.4% sogar etwas besser da als Schweden mit 1%. Anzumerken ist, dass beide Werte im Vergleich zum OECD-Durchschnitt von 10% extrem tief sind. An den Arbeitsstunden kann es also nicht liegen.
Wie steht es mit dem Leistungsdruck? Nun, als Studentin kann ich nicht viel über die Arbeitswelt sagen, wohl aber über die Universität. Dort gibt es keine Noten (nur «pass» oder «fail»), was den Student*innen meiner Meinung nach erheblichen Druck wegnimmt. Ausserdem wird viel Wert auf Teamgeist und weniger auf Konkurrenz gelegt, Erfolge werden gemeinsam gefeiert. Statt einer «Ellenbogenmentalität» entsteht so ein harmonisches Miteinander. Verstärkt wird dies durch den persönlichen Bezug zu den Lehrer*innen, die durch regelmässigen Austausch das Leben der Student*innen so angenehm wie möglich gestalten wollen. So etwas wie «Siezen» kennen sie übrigens nicht, es wird allen von Anfang an «Du» gesagt.
Die schwedische Mentalität scheint also ganz anders zu sein. Weniger Druck von sich selbst wie auch von Aussenstehenden zu spüren, gemeinsam im Team etwas erreichen, statt immer der*die Beste sein zu wollen, Arbeiten stressfrei im eigenen Tempo erledigen – für mich klingt das jedenfalls super. Davon könnte sich jede*r eine Scheibe abschneiden, egal ob Arbeitgeber*in oder Angestellte*r, egal ob Schüler*in oder Politiker*in. Ich selbst bin übrigens noch weit davon entfernt, habe aber eines schon fest in meinen Alltag integriert: regelmässige Fika-Pausen – natürlich mit viel Kannelbullar.
Vänliga Hälsningar
Mia, från Göteborg
P.S.: Die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Schweden trägt vermutlich auch zu einer erheblichen Stressreduktion im Alltag bei. Da kann die Schweiz bei Weitem nicht mithalten, wie bereits in der letzten Folge aufgezeigt.