Das progressive Schweden – und was die Schweiz von ihm lernen kann

Hej Schweiz! Heute reden wir über Gender Equality (jämställhet in Schwedisch) – nicht gerade dein Lieblingsthema.

Viele Männer mit Kinderwagen in der Stadt. Genderneutrale Toiletten überall. Das waren die Dinge, die mir als Erstes aufgefallen sind, als ich vor ca. zwei Monaten für mein Austauschsemester nach Göteborg gezogen bin. Und das ist auch kein Wunder: Schweden ist gemäss dem Gender Equality Index der EU das geschlechtergerechteste Land Europas!

Wenn es beispielsweise um Elternzeit (föräldraledighet) geht, ist es absoluter Vorreiter: Seit 1974 hat es (als erstes Land) ein genderneutrales System mit einer bestimmten Anzahl Tage (heute 480) nach der Geburt des Kindes eingeführt, welche die Eltern frei untereinander aufteilen können. Um die Väter noch mehr zu ermutigen, dies auch zu nutzen, wurden drei reservierte, unübertragbare Monate für jeden Elternteil bestimmt. Da wundern einen die vielen Väter auf dem Spielplatz und der hohe Anteil von Frauen auf dem Arbeitsplatz nicht mehr so.

Und jetzt zu dir liebe Schweiz. Mit zwei Wochen Vaterschaftsurlaub kannst du da nicht ganz mithalten. Nicht zu vergessen, dass wir 2021 das letzte Land in ganz Europa waren, das diesen Vaterschaftsurlaub eingeführt hat. Aber auch jetzt stehen wir noch ganz hinten. Die Papi-Zeit ist zwar endlich angekommen, von einer Elternzeit, wie es in Europa heutzutage eigentlich die Norm ist, sind wir jedoch noch weit entfernt.

Und so ziehe ich nach Schweden, lerne viele internationale Student*innen von überall (z.B. Spanien, Niederlande, Australien) kennen und alle reagieren gleich auf meine Herkunft: oh wow, so cool, so ein tolles Land. Und alle sind gleich geschockt, wenn ich ihnen dann diese Dinge erzähle. Irgendwie schon peinlich, aus einem so wohlhabenden, ‹entwickelten› Land zu kommen und dann, sobald es um Geschlechtergerechtigkeit geht, so weit hinterherzuhinken.

Anderes Beispiel: Child care (barnomsorg). Schon lange ein sehr umstrittenes Thema in der Schweiz, da es sich immer noch viele Eltern nicht leisten können, ihre Kinder in eine Tagesstätte oder Ähnliches zu bringen. Unterstützung vom Staat zu bekommen ist auch sehr schwer. Verbunden mit dem sehr kleinlichen Vaterschaftsurlaub und mit einem relativ grossen Gender Pay Gap, ist es ziemlich naheliegend, dass immer noch viele Frauen nach der Geburt zu Hause bleiben oder Teilzeit arbeiten.

In Schweden hingegen befinden sich ca. 90% der Drei- bis Sechsjährigen in einer sogenannten «Dagi» (Kindertagesstätte) oder «förskola» (Vorschule). Finanziert wird das mehrheitlich vom Staat und von den Gemeinden, mit dem Ziel, dass kein Paar aufgrund finanzieller Schwierigkeiten auf Kinderbetreuung verzichten muss. Geholfen ist damit nicht nur den Familien, sondern auch der Wirtschaft: Beide Elternteile können so relativ schnell nach der Geburt in die Arbeit zurückkehren. Konkret arbeiten innerhalb der ersten 5 Jahre mehr als 85% der Frauen in Schweden, in der Schweiz beschränkt sich die Rate auf weniger als 75%.

Ist es denn wirklich so schwer dort anzukommen, wo vergleichbare Länder schon lange sind? So, dass ich nicht mehr erstaunt bin, in der Stadt Väter mit ihren Kindern anzutreffen, und diese auch in der Schweiz nicht mehr komisch angeschaut werden. So, dass ich Menschen aus anderen Ländern nicht mehr beschämt erklären muss, dass wir in diesen Belangen europaweit sehr weit hinten stehen – ganz entgegengesetzt zu deren Erwartungen. Zwar sind wir mittlerweile auf dem Weg zur Besserung, wie auch die Einführung des Vaterschaftsurlaub zeigt; doch das gestaltet sich sehr, sehr langsam (aus meiner Sicht zu langsam). Und wenn man bedenkt, wie ähnlich die Schweiz Schweden sonst in vieler Hinsicht ist, sollten wir das doch irgendwie hinbekommen.

Vänliga Hälsningar (Freundliche Grüsse)

Mia, från Göteborg

P.S. Liebe Schweiz, du kannst dich freuen: Von nun an wirst du alle zwei Wochen von mir aus Schweden hören… und dabei hoffentlich das eine oder andere dazulernen!