Digital leben – was man in der Schweiz kann, muss man in Schweden schon.
Hej Schweiz!
Spotify, Skype, Minecraft… wir kennen und lieben sie (fast) alle. Sie alle haben ihren Ursprung in Schweden, dem Land, das für Innovation und Digitalisierung (digitalisering) bekannt ist. Gemäss dem IMD World Digital Competitiveness Ranking liegt es auf Platz 3. Obwohl die Schweiz mit Platz 5 nicht viel schlechter abschneidet, spüre ich im Alltag einen deutlichen Unterschied. Analog bekommst du fast gar nichts mehr, und wenn, dann ist es oft komplizierter und unter Umständen auch teurer. Seit ich nach Göteborg gezogen bin, habe ich schon etwa 10 Apps heruntergeladen, von denen ich viele nur einmal gebraucht habe. Das kann mit der Zeit auch ziemlich lästig werden.
Auch der öffentliche Verkehr (kollektivtrafik) in Göteborg ist komplett digitalisiert, was meine Familie bei ihrem Besuch auf die harte Tour erfahren musste. Die meisten Leute kaufen ihre Fahrkarten (biljetter) mit einer App, was ich auch aus der Schweiz kenne und für mich gut funktioniert. Wenn man das nicht kann (oder will), gibt es diese Karten, die man am Schalter kauft, mit einem Guthaben lädt und dann jeweils im Tram oder Bus entwertet. Allerdings kostet ein Ticket dann 5 Kronen (ca. 45 Rappen) mehr, was sich mit der Zeit summiert. Fahrkartenautomaten oder die Möglichkeit, ein Billet im Bus zu lösen, gibt es nur noch sehr vereinzelt. Nun, zurück zu meiner Familie. Sie kam um ca. 11 Uhr nachts in Göteborg an und wollte ein Ticket kaufen. Die App funktionierte bei ihnen nicht. Mit drei Kreditkarten versuchten sie es, keine wurde akzeptiert, womit sie übrigens nicht alleine sind. Die Schalter waren natürlich nicht mehr offen. Was macht man in so einer Situation? Da sie im Bus auch kein Ticket bekamen, waren sie sozusagen gezwungen schwarz zu fahren. Und selbst als sie am nächsten Tag die Karte gekauft haben, war das Problem damit noch nicht gelöst, denn oft funktionieren die Automaten zum Entwerten des Tickets nicht richtig. Ganz schön frustrierend. Auch wenn es prinzipiell sehr praktisch ist und ökologisch weitaus mehr Sinn macht, als Tausende von Papiertickets rauszuwerfen, gibt es offensichtlich noch Verbesserungspotenzial.
Auch beim Bezahlen (betalande) besteht der Unterschied zur Schweiz vor allem darin, ob man kann oder muss. Während man in der Schweiz mittlerweile fast überall mit Karte (kort) bezahlen kann, wird in Göteborg in den meisten Cafés und Bars gar kein Bargeld (kontanter) mehr angenommen. Mir persönlich (und da kann ich wohl für meine Generation im Allgemeinen sprechen) ist das ziemlich egal, da ich sowieso meistens mit Karte bezahle. Aber für einige macht es das Leben deutlich schwerer wie zum Beispiel Strassenkünstler*innen: Wer wirft ihnen noch eine Münze in den Hut, wenn niemand mehr Bargeld bei sich trägt? Nicht zu vergessen die absolute Abhängigkeit von der Technik – dazu eine kleine (lustige) Geschichte aus einem Hallenbad. Neulich wollte ich schwimmen gehen und wie gewöhnlich den Tageseintritt mit meiner Kreditkarte zahlen, als der Mensch an der Rezeption sagte, heute sei der Eintritt für alle frei. Warum? Es gab einen technischen Fehler bei den Kartenlesegeräten. Und da es keine andere Bezahlungsmethode gibt, können sie kein Geld von den Kund*innen verlangen. Da war ich ganz schön erstaunt, aber ich habe mich natürlich nicht beschwert.
Schliesslich gibt es noch die Personennummer (personnummer). Jede, die länger als ein Jahr in Schweden wohnt, bekommt eine Identifikationsnummer, auf der alle persönlichen Daten gespeichert sind und über die die gesamte Kommunikation läuft, vom Handyvertrag bis zum Medikamentenrezept. Musst du zum Arzt, buchst du mit dieser Nummer online einen Termin und die Ärztin hat bereits alle Informationen. Das scheint vieles zu vereinfachen und zu beschleunigen und hat bestimmt auch einige Vorteile ‑ vorausgesetzt du bleibst länger als ein Jahr in Schweden. In meinem Fall – ich verbringe nur ein Semester hier – ist eher das Gegenteil der Fall und vieles ist komplizierter. Zum Beispiel kann ich ohne Personennummer kein Handyabo abschliessen und auch ein Arztbesuch gestaltet sich schwieriger.
Nun habe ich viel über Schweden gesprochen und gar nicht über die Schweiz. Sie scheint sich in eine ähnliche Richtung zu bewegen; weniger Billetautomaten, immer mehr Orte, an denen nur mit Karte oder Twint bezahlt werden kann. Das ist auch okay so, aber vielleicht kann die Schweiz ja aus den «Fehlern» Schwedens lernen und versuchen, diese von Anfang an zu vermeiden?
Vänliga Hälsningar
Mia, från Göteborg
P. S.: Laut einer Umfrage der Europäischen Kommission von 2017 schätzen mehr als 70% der Schwed*innen den Effekt digitaler Technologien (digitala tekniker) in den drei Bereichen Ökonomie, Lebensqualität und Gesellschaft als positiv ein. Als negativ werden sie von weniger als 15% eingeschätzt. Damit liegen sie im europäischen Vergleich im oberen Drittel. Auch gegenüber der künstlichen Intelligenz (artificiell intelligens) sind sie sehr positiv eingestellt, über 80% bezeichnen sich als Befürworter*innen. Ihre Einstellungen scheinen also mit den Entwicklungen in ihrem Land übereinzustimmen.