Hallo Kyiv
Ja hallo. Ich bin nun seit einem Monat in Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine. Und wie das hier eigentlich so aussieht, was ich für Menschen und Geschichten antreffe, das erfährt ihr in den nächsten Tagen und Wochen hier im indieZ. Angefangen mit meinem ersten Eindruck der Stadt.
Sieben Uhr morgens. Ich stehe vor einem Wohnhaus in Podilskyi, einem südlichen Stadtteil von Kyiv. Die Türe öffnet sich, mein Gastgeber Serhii (17) blinzelt mich verschlafen an. Nicht seine Lieblingszeit des Tages. Ich bin auch müde, aber mehr so 36-Stunden-Busfahrt-müde. Wir schleichen auf Zehenspitzen in die Wohnung, um seine Partnerin Sofiia, sowie zwei Freundinnen aus Lviv, die bei ihnen übernachtet haben nicht zu wecken.
Eine Stunde später sitze ich mit einer Gruppe ukrainischer Zoomers und einem absurd grossen Topf Buchweizen am Küchentisch. Mir wird stark davon abgeraten, das hiesige Leitungswasser zu trinken. Und ich werde über cringe Mainstream-Popkultur aufgeklärt. Zum Beispiel gibt es einen Spürhund namens "Pes Patron". Er findet Blindgänger und Minen. Und ist seit Beginn des Krieges zum Social-Media-Maskottchen geworden. Er hat von Zelensky Ehrenmedaillen und von der UNICEF den Titel AmbassaDOG erhalten. Jetzt blickt einem die treuherzigen Augen des Jack Russell Terriers von T-Shirts entgegen. Und ja, natürlich gibt es auch einen Song über ihn.
Pathetisch wirkende Plakate fordern zum Beitritt der Armee auf. Sie sehen aus wie Werbung für «Call of Duty».
Ein paar Stunden später sind wir im Zentrum der Stadt. Sofiia und Serhii zeigen mir Sehenswürdigkeiten: Ich sehe goldene Dächer (davon gibt es hier viele), die Sophienkathedrale und das St. Michaelskloster, den geschichtsträchtigen Maidan-Platz und den Bogen der Völkerfreundschaft, auf den 2014 ein Riss gemalt wurde. Ausserdem kommen wir an einer Kaffee-Kette, die «berühmt ist für ihren schrecklichen Kaffee», und einem "sehr korrupten Gerichtshaus" vorbei. Auf der Hauptstrasse stehen Dutzende zerstörte russische Panzer: Eine Ausstellung für den anstehenden Unabhängigkeitstag. Zwischen den Panzerruinen spazieren die Einwohner von Kyiv. Einige kritzeln Botschaften auf die Panzer, andere flitzen auf E-Scootern vorbei, trinken Kaffee oder entspannen sich am Strand des Flusses Dnipro. Ein Teenager bittet mich, seine im Ärmel versteckte Zigarette anzuzünden.
Wenn man um sich blickt, findet man inmitten der alltäglichen Szenen Zeichen des Krieges. Statuen sind zum Schutz vor Luftangriffen in Beton eingepackt, Soldaten sammeln Spenden für die Armee, am Rand der Strassen stehen weggeräumte Panzerbarrieren. Pathetisch wirkende Plakate fordern zum Beitritt der Armee auf. Sie sehen aus wie Werbung für «Call of Duty».
Auf einmal ertönt eine tiefe Sirene: Luftalarm.
Auf einmal ertönt eine tiefe Sirene: Luftalarm. In einem Dschungel von Telegram-Kanälen wird angekündigt, dass ein russischer Jet gestartet ist. Könnte nach Kyiv unterwegs sein - wahrscheinlicher ist aber, dass er gar keine Raketen an Bord hat. Im Zentrum der Stadt interessierts niemanden wirklich. Nach einer Minute verstummt die Sirene, und nur ein Blick auf zuständige Handy Apps verrät, dass noch immer Luftalarm herrscht.
Abends sitze ich wieder mit Sofiia und Serhii in der Küche. Serhii fängt im Herbst mit der Uni an, Sofiia hat gerade ihren Bachelor in Journalismus abgeschlossen. Wir erfahren, dass der russische Warlord Yevgeny Prigozhin anscheinend tot ist. Beide reagieren skeptisch und mit begrenztem Interesse. Sofiia erzählt mir vom Beginn des Krieges. Von den Tagen, als das Verlassen des Hauses verboten war, weil russische Soldaten in der Stadt waren und das Militär auf alles schoss, was sich bewegte. Vom Winter, als das Stromnetz angegriffen wurde und Millionen im Dunkeln sassen. Von Monaten im Licht des Gasherds und einer omnipräsenten Ungewissheit. Sofiia hat beim Erzählen Tränen in den Augen.
Ich höre auch Serhiis Geschichte. Er kommt aus der Stadt Kramatorsk in der erbittert umkämpften Region Donetsk. Er wollte fliehen, doch seine Familie erlaubte es ihm nicht. Sie wollten nichts mit dem Krieg zu tun haben und weigerten sich zu gehen. Er war damals sechzehn. Nach Wochen konstant kreischender Sirenen und Bombardements entschied er sich, auf eigene Faust zu flüchten. Beim zweiten Anlauf schaffte er es. Er zog so viele Schichten Klamotten wie möglich an. Dann warf er einen kleinen Rucksack aus einem Fenster, unter dem ein Freund wartete, und ging "einen Spaziergang machen". Wochen später wurde der Bahnhof, von dem er in den Westen des Landes fuhr, mit Streumunition bombardiert. Dutzende starben.
Der Betrieb in Läden und Restaurants ist nahezu unverändert. Doch die Wunden sitzen tiefer.
Ich erfahre auch von einem Musiker, dessen Konzert Sofiia vor ein paar Jahren besucht hat. Er wurde inzwischen Opfer des Krieges. Und ein Freund von Serhii, der als Freiwilliger im Osten arbeitete, ist ebenfalls umgekommen.
Kaputte Strassen werden in wenigen Tagen repariert und zerbombte Gebäude in Rekordzeit wieder aufgebaut. Der Betrieb in Läden und Restaurants ist nahezu unverändert. Doch die Wunden sitzen tiefer. Hinter fast jedem Gesicht versteckt sich eine Geschichte von Trauma und Verlust. Fast jede Woche kursieren neue Videos und Nachrichten von zivilen Opfern. Und dennoch unterhalten wir uns bald über ukrainische Telegram-Sticker. Diejenigen, die ich verstehe, sind sehr lustig. Und viel zu vulgär für diesen Text. Und so lachen wir über dumme Memes und Prigozhins gefälschte Passfotos. Dem Trauma des Vergangenen und der Angst vor der Zukunft zum Trotz geht das Leben weiter.
Du möchtest keine neue Reportage verpassen?
Dann abonniere unseren Newsletter :)